„Normen dienen Wissenschaft und Praxis als richtungsweisende Arbeitsunterlagen“
Die DIN-Normen kennt wahrscheinlich jeder oder hat zumindest schon einmal mit ihnen zu tun gehabt. Bei den VDI-Richtlinien oder den Arbeitswissenschaftlichen Empfehlungen sieht es schon anders auch. Doch was für einen Stellenwert für den Arbeitsschutz haben DIN-Normen, VDI-Richtlinien oder AWE? Regel-Recht aktuell hat bei Oliver Boergen, Senior Manager Externe Kommunikation von DIN e. V., nachgefragt.Â
Herr Boergen, warum gibt es Normen?
Wenn der Industrieroboter die Sprache seines Gegenübers versteht, wenn neue Türen und Fenster in vorhandene Rahmen passen oder Designer bei Kinderbekleidung darauf achten, dass Kordeln nicht zu tragischen Unfällen führen können – fast immer ist dies einer Norm zu verdanken. Zwar ist es freiwillig, eine Norm anzuwenden, doch oft Usus, weil es gewichtige Vorteile mit sich bringt: effizientere Prozesse, bessere und sicherere Produkte, nicht zuletzt Rechtssicherheit. So sehen viele Gesetze vor, dass Hersteller die anerkannten Regeln der Technik anwenden müssen. Im Falle eines Rechtsstreits wird die Anwendung einer Norm oft positiv gewertet. Und für die Volkswirtschaft rechnet sich die Normungsarbeit: Normen haben gemäß verschiedener, unabhängiger Studien für Deutschland einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen zwischen 15 und 20 Milliarden Euro pro Jahr und stabilisieren das Wachstum der deutschen Wirtschaft.
Was regeln diese?
Normen sind Dokumente, in denen Anforderungen an Produkte, Verfahren oder Dienstleistungen festgeschrieben sind – das sind etwa bestimmte Eigenschaften, die ein Produkt erfüllen muss. Es geht dabei darum, die Qualität zu unterstützen oder auch den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen zu ermöglichen. Normen sind eine Art Sprache zwischen den betreffenden Wirtschaftsbeteiligten – auch im internationalen Handel. Gerade für Deutschland als Exportland ist das von besonders großem Interesse. Die Anwendung von DIN-Normen ist übrigens grundsätzlich freiwillig. Erst wenn Normen zum Inhalt von Verträgen werden oder wenn der Gesetzgeber ihre Einhaltung zwingend vorschreibt, werden Normen bindend.
Welches sind die größten Unterschiede und Gemeinsamkeiten von DIN Normen, VDI Richtlinien und AWE?
Nicht nur klassische DIN-Normen beschreiben den Stand der Technik, zum Beispiel in Bezug auf die Sicherheit von Produkten. Auch die nationalen Richtlinien des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) sind anerkannte Regeln der Technik. AWE Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse wiederum sind Publikationen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in dem Ergebnisse aus Forschungs- und Entwicklungsarbeiten praxisgerecht aufbereitet wurden.
DIN-Normen, VDI-Richtlinien und AWE unterscheiden sich sowohl in der Erarbeitung als auch in ihrem Stellenwert. Ein entscheidender Unterschied im Erstellungsprozess ist beispielsweise, dass sich die interessierte Öffentlichkeit in die Erarbeitung von VDI Richtlinien oder AWE nicht in gleicher Weise wie bei DIN-Normen einbringen kann. DIN-Normen werden in Arbeitsausschüssen von Fachleuten der sogenannten interessierten Kreise erarbeitet, beispielsweise Arbeitsschutz, Verbraucher, Hersteller, Wissenschaft oder Öffentliche Hand. Jeder kann sein Interesse einbringen. Ein Schlichtungs- und Schiedsverfahren sichert die Rechte von Minderheiten.
Allen gemein ist, dass sie Wissenschaft und Praxis als richtungsweisende Arbeitsunterlagen dienen und den Charakter von Empfehlungen haben.
Welche Rolle spielen Normen im Arbeitsschutz?
Die Normung verfolgt Schutzziele für den Menschen in den Bereichen Gesundheit, Arbeit und Freizeit sowie für die Umwelt. Sie senkt Risiken für Anwender und verbessert die Sicherheit. Der Arbeitsschutz spiegelt sich vor allem in den vorbeugenden Sicherheitsanforderungen an Maschinen und Prozesse sowie in den persönlichen Schutzausrüstungen wider, die von der Kommission Sicherheitstechnik (KS) koordiniert werden. Im Bereich des Gesundheitsschutzes erfolgt die Koordinierung in der Kommission Gesundheitswesen (KGw), in der außer den wesentlichen Stakeholdern auch die beteiligten DIN-Normenausschüsse (Medizin, Rettungsdienst und Krankenhaus, Radiologie, Feinmechanik und Optik, Bereich Medizin bei der DKE) vertreten sind.
Haben diese Normen auch international Gültigkeit?
Auch im Bereich Arbeitsschutz gibt es Normen, die internationale Gültigkeit haben.
Wie entsteht eine Norm und wer bestimmt, was darin steht?
Die treibenden Kräfte hinter Normung und Standardisierung sind Wirtschaft und Gesellschaft. Von ihnen kommen die Impulse zur Normung. Und zwar weil das Bedürfnis für eine entsprechende Norm besteht – sei es zur Qualitätssicherung von Produkten oder Dienstleistungen, um den Handel zu erleichtern, Innovationen zur Marktreife zu entwickeln oder um Zukunftsfelder zu erschließen. Das heißt, wenn Sie beispielsweise denken, es sollte für ein bestimmtes Thema eine Norm geben, dann können Sie diesen Vorschlag bei DIN einreichen. Wir legen das Anliegen dem betreffenden Fachkreis vor und die Experten in diesem Gremium prüfen dann den Bedarf dafür. Diese Experten sind keine Mitarbeiter von DIN. Die Fachkreise bestehen insgesamt aus 32.000 Experten aus Wirtschaft, Forschung, der Öffentlichen Hand oder von Verbraucherseite. Sie lassen ihr Wissen in die Normen einfließen. DIN selbst ist, vereinfacht gesagt, der Projektmanager und Moderator eines Normungsprozesses. Wir sorgen für die „Logistik“, das Zusammenkommen der Experten und prüfen beispielsweise, dass es bei Normen keine Dopplungen oder Widersprüche gibt. Wir gleichen die Norm mit internationalen Ansprüchen ab, halten den Kontakt zu den europäischen und internationalen Gremien und schauen, ob eventuell eine internationale Norm entwickelt werden sollte.
Wie oft werden Normen aktualisiert bzw. an den Stand der Technik angepasst?
Jede Norm wird spätestens alle fünf Jahre durch die Normenausschüsse geprüft. Die Experten, die die Norm ausgearbeitet haben, werden kontaktiert und befragt, ob sie hier Überarbeitungsbedarf sehen. Es kann aber auch sein, dass vor Ablauf der fünf Jahre ein Impuls von außen kommt, der eine Überarbeitung anregt.
Vielen Dank für das Interview.