„Das Arbeitsschutzgesetz kommt an seine Grenzen“
Das Arbeitsschutzgesetz wird dieses Jahr 20 Jahre alt. Zentrale Neuerung: Die Gefährdungsbeurteilung wurde eingeführt. Sie gehört seither zu den grundlegenden Pflichten von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern – und hat deren Gestaltungsspielraum für das Vorbeugen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten vergrößert. Welche Auswirkungen das für die gesetzliche Unfallversicherung hatte, erzählt Dr. Walter Eichendorf, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV).
Das Arbeitsschutzgesetz ist 1996 eingeführt worden. Seine zentrale Neuerung war die Gefährdungsbeurteilung. Was der Grund für die Einführung des Gesetzes?
Das Arbeitsschutzgesetz schuf erstmals ein einheitliches Arbeitsschutzrecht, das für nahezu alle Tätigkeitsbereiche und Beschäftigten in Deutschland gilt. Anlass war die Europäische Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz (89/391 EWG). Sie musste in deutsches Recht übertragen werden. Kern der Richtlinie – und damit auch des Arbeitsschutzgesetzes –  ist ein ganzheitlicher, präventiv ausgerichteter Arbeitsschutz.
Seit 1996 hat sich die Unfallquote fast halbiert, die Zahl der tödlichen Arbeits- und Wegeunfälle ist um rund 60 Prozent zurückgegangen. Ist dieser starke Rückgang auf das Arbeitsschutzgesetz zurückzuführen?
Diese Entwicklung lässt sich nicht durch monokausale Zusammenhänge erklären. Die Einführung der Gefährdungsbeurteilung hat sicher einen Anteil daran. Aber darüber hinaus spielen auch weitere Präventionsmaßnahmen, insbesondere Kampagnen,  und die Veränderungen in der Technik eine Rolle.
Die letzte große Neuerung am Arbeitsschutzgesetz gab es 2013. Seitdem müssen Arbeitgeber psychische Belastungen bei der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigen. Hat sich diese Aufnahme bewährt?
Eigentlich war die Berücksichtigung der psychischen Belastungen auch vorher schon implizit im Gesetz enthalten, aber mit der Änderung 2013 ist sie noch einmal deutlich hervorgehoben worden. Es ist in der heutigen Arbeitswelt unbedingt notwendig, auch die psychischen Belastungen als Gefährdung zu begreifen und zu erfassen. Aber viele Betriebe tun sich schwer damit. Denn diese Belastungen sind ja nicht so einfach zu messen. Berufsgenossenschaften und Unfallkassen haben deshalb Handlungsanleitungen entwickelt, die zeigen, wie es gehen kann.
Die Arbeitswelt ändert sich immer schneller, als Stichworte seien Industrie 4.0 oder Internet der Dinge genannt. Ist das Arbeitsschutzgesetz angesichts dieses rasanten Wandels noch aktuell oder bedarf es einer umfassenden Reform?
Das Arbeitsschutzgesetz kommt an seine Grenzen, weil es sich ausschließlich an „Beschäftigte“ wendet. Alternativen Beschäftigungsformen, Freiberufler oder Alleinselbständige nehmen zwar immer mehr zu. Sie werden durch das Gesetz aber nicht erfasst. In der gesetzlichen Unfallversicherung sprechen wir deshalb inzwischen lieber von ‚Erwerbstätigen‘. Das wäre vielleicht auch eine Möglichkeit, den Wirkungskreis des Gesetzes zeitgemäß zu erweitern.
Gibt es Punkte, die Sie am Arbeitsschutzgesetz kritisieren? Wenn ja, welche?
Nein. Das Arbeitsschutzgesetz ist vom Umfang her überschaubar und verständlich formuliert. An dieser Grundlage sollte festgehalten werden. Nur der Begriff „Arbeitsschutz“ ist veraltet. Wir sprechen heute von „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“.
Vielen Dank für das Interview.