„Teilhabe statt Ausgrenzung“
Der Gesetzentwurf zum Bundesteilhabegesetz (BHTG) wirft zahlreiche Fragen auf. Die große Angst: eine Verschlechterung der Lebenssituation für einen Großteil der Menschen mit Behinderung. Brigitte Roth – Referentin Behindertenhilfe / Soziale Psychiatrie beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Hessen – spricht im Interview über die Neuerungen, die zu erwartenden Nachteile und gibt Vorschläge für eine Verbesserung.
Der Gesetzentwurf zum BHTG wird aus vielen Ecken der Gesellschaft kritisiert. Der Vorwurf: Er erfüllt nicht die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention und bringt sogar Verschlechterungen für behinderte Menschen mit sich. Was ist ihre Einschätzung?
Leider bleibt der Gesetzentwurf weit hinter den Erwartungen an ein echtes Teilhabegesetz zurück. Der Bundesgesetzgeber zielt mit dem Gesetz in erster Linie auf Kosteneinsparung und nicht auf Verwirklichung von mehr Teilhabe und damit von Inklusion von Menschen mit Behinderung. Wir als Verband fordern, dass Teilhabeleistungen auch bei nur einer oder wenigen Einschränkungen geleistet werden, denn so sieht es auch die UN-Behindertenrechtskonvention vor. Die UN-Behindertenrechtskonvention kennt nur den Begriff der Behinderung. Das BTHG dagegen sieht Leistungen für Menschen mit Behinderung nur vor, wenn diese Behinderung zugleich auch eine erhebliche Teilhabeeinschränkung auslöst. Damit wird eine „Erheblichkeitsschwelle“ neu eingeführt, die eine hohe Hürde für bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel Menschen mit einer Suchterkrankung oder seelischen Erkrankung, schafft, um für die Personen an Unterstützung zu gelangen.
Die Ziele der Eingliederungshilfe sollen verkürzt werden. Was bedeutet das für die Menschen mit Behinderung?
Bisher hatte die Eingliederungshilfe auch die Aufgabe, eine drohende Behinderung zu vermeiden, eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder sie zu mildern und die Leistungsberechtigten unabhängig von Pflege zu machen. Dies soll zukünftig nicht mehr der Fall sein. Damit entfällt eine zentrale Aufgabe der Eingliederungshilfe, nämlich Menschen mit Behinderung zu befähigen, ein selbstbewusstes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Diese Aufgabe muss erhalten bleiben. Nach dem Willen der Bundesregierung sollen Leistungen der Pflege zukünftig Vorrang vor Leistungen der Eingliederungshilfe haben. Pflege und Eingliederungshilfe verfolgen aber unterschiedliche Ziele: So dienen Pflegeleistungen vorrangig dazu, verlorene Fähigkeiten und Kompetenzen wieder zu erlangen. Eingliederungshilfe aber dient aber dazu, Menschen zu befähigen, Fähigkeiten zu einer selbstbestimmten und selbständigen Lebensführung zu erlangen und diese soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Beide Zielrichtungen müssen nebeneinander bestehen. Dies wird mit dem Vorrang der Pflege vor der Eingliederungshilfe aufgegeben. Zukünftig ist davon auszugehen, dass Menschen mit Behinderungen und Pflegedürftigkeit in eigener Wohnung nur noch Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen können. Ob und in welchem Maße sie zukünftig noch Eingliederungshilfeleistungen bekommen, ist fraglich.
Eine Einschränkung soll es auch im Wunsch- und Wahlrecht geben. Welche Veränderungen würde das bedeuten?
Die Bewilligung und Auswahl von Leistungen, das sogenannte Wunsch- und Wahlrecht, soll künftig nicht nur unter Mehrkostenvorbehalt stehen, sondern der Kostenträger erhält das Recht beispielsweise einseitig Unterstützungsmaßnahmen festzulegen oder Unterstützungsleistungen für mehrere Personen gemeinschaftlich zu erbringen („poolen“). Das bedeutet, jemand, der bisher dank entsprechender Unterstützungsleistungen in der eigenen Häuslichkeit gelebt hat, könnte künftig entgegen seines Wunsches auf ein gemeinschaftliches Wohnangebot verwiesen werden.
Die Regierung lobt das geplante Gesetz, die Betroffenen sehen das anders. Sie befürchten mehr Armut und weniger Freiheit. Welche Rückmeldungen erhalten Sie von Betroffenen?
Mitglieder im Paritätischen Wohlfahrtsverband sind neben Leistungserbringern auch Betroffenenorganisationen. Wir diskutieren gemeinsam die Auswirkungen. Die Befürchtungen gehen dahin, dass Betroffene ebenso wie Leistungserbringer die Gefahr von Leistungseinschränkungen und Verschlechterungen gegenüber dem bisherigen Recht sehen. Viele Anspruchsberechtigte befürchten, aus dem System zu fallen, wenn zukünftig ein dauerhafter Unterstützungsbedarf in fünf von neun beziehungsweise in drei von neun Lebensbereichen nachgewiesen werden muss. Mit der Neuregelung wird ein neuer Behinderungsbegriff eingeführt, ohne wie beim neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff die Veränderungen fundiert evaluiert und modellhaft erprobt zu haben. Der neue Behinderungsbegriff wird, wenn es bei der bisherigen Regelung bleibt, ohne Rücksicht auf die Ergebnisse der Evaluation, zum 1. Januar 2020 eingeführt. Sinnvoll wäre es, zuerst zu erproben und die Ergebnisse zu evaluieren und dann erst einen neuen Behinderungsbegriff und damit den Zugang zu Eingliederungshilfeleistungen einzuführen. Zudem werden Leistungen der Eingliederungshilfe auch künftig nur nach Anrechnung von Einkommen und Vermögen gewährt. Höhere Freibeträge wird es nur für Erwerbstätige geben. Menschen mit Behinderung in Rente oder Mutterschutz profitieren von den Neuregelungen nicht. Auch für alle, die auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind, ändert sich nichts. Für sie bleibt die Vermögensgrenze bei 2600 Euro. Damit bleibt Behinderung ein Armutsrisiko.
An welchen Punkten und wie sollte Ihrer Meinung nach der Gesetzentwurf verbessert werden, um am Ende tatsächlich als „Meilenstein der Behindertenpolitik“ zu gelten?
Wir fordern, dass beim Behinderungsbegriff das Erreichen einer rein quantitativen „Mindestanzahl“ an erheblichen Einschränkungen aus dem Gesetzentwurf zurückgenommen wird. Niedrigschwellige Zugänge zum Teilhabesystem müssen erhalten bleiben, um früh Unterstützung leisten zu können. Zudem muss vor der Einführung eines neuen Behinderungsbegriffs dieser erprobt und evaluiert werden, um zu verhindern, dass Menschen mit Behinderung aus dem Leistungsbezug herausfallen. Um eine umfassende Bedarfsabdeckung zu verwirklichen, muss der Gleichrang von Eingliederungshilfe und Pflege bestehen bleiben. Die gemeinsame Nutzung von Teilhabeleistungen kann Menschen genauso wenig verordnet werden, wie die Wahl der kostengünstigsten Leistung. Sie kann nur erfolgen, wenn die Leistungsberechtigten der Gemeinschaftsleistung zustimmen.
Wir wollen Teilhabe statt Ausgrenzung, Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung und fordern daher eine Überarbeitung des Bundesteilhabegesetzes und des geplanten Dritten Pflegestärkungsgesetzes (PSG III). Die Zeit ist reif für ein Bundesteilhabegesetz, das den Namen verdient und die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention wirklich erfüllt.
Vielen Dank für das Interview !